Zeugnistag
"Komm, Junge, lass uns gehen!"
Zeugnistag
„Komm, Junge, lass uns gehen!“
In dieser Zeit - Ende Januar - ist es wieder so weit: Halbjahreszeugnisse in der Schule. Manch‘ eine/r erinnert sich. Oder auch lieber nicht.
Meine wichtigste Lernerfahrung in der Schule überhaupt war ein Zeugnistag.
Berichtet Reinhard Mey, der Liedermacher.
Und erzählt die ganze Geschichte. Er muss so ungefähr 12 Jahre alt gewesen sein, als er ein Zeugnis bekommt. Das ist so schlecht, dass er sich nicht traut, es zuhause unterschreiben zu lassen.
Nicht mal in Religion eine vier!
Also malt er – schön bunt – zwei Unterschriften unter dieses Dokument des Grauens. Das fliegt am nächsten Tag sofort auf. Er wird vom Direktor aus dem laufenden Unterricht geholt, der kocht vor Wut.
Dann lässt er seine Eltern holen, lehnt sich genüsslich im Stuhl zurück. Um sich anzuschauen, was nun mit diesem missratenen Sohn, dem Urkundenfälscher passieren wird.
(Wenn Du damals in den fünfziger oder sechziger Jahren in der Schule Ärger hattest, dann bekamst Du zuhause auch Ärger.)
Der Vater nimmt das Zeugnis in die Hand schaut zu seinem Sohn und sagt: „Ohne Zweifel, das ist meine Unterschrift.“ Die Mutter sagt: „Das ist mein Namenszug. Gekritzelt zwar, aber ich habe kurz vorher zwei große, schwere Einkaufstaschen getragen. Das müsse man verstehen.“
Dann sagt sie: „Komm, Junge, lass uns gehen!“
Seine wichtigste Lektion aus der gesamten Schulzeit: „Es tut gut, dass dir jemand Zuflucht gibt, ganz gleich, was Du auch ausgefressen hast.“
Zuflüchtig sein
Ein Brief an Unbekannte schreibt Paulus. Der ist von Jesus dazu berufen und dann losgeschickt, eine revolutionäre Entdeckung weiterzusagen.
Und da heißt es an einer Stelle:
16Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. 17Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht (Hab 2,4): »Der Gerechte wird aus Glauben leben.« Römer 1,16+17
Heißt übersetzt: Nimm doch mal an, dass Gott Dich radikal anders sieht als Du dich selbst. Oder andere. So anders, dass man sich nicht mehr wiedererkennt.
Evangelium heißt auf Deutsch „gute Nachricht“. Was für eine gute Nachricht: Für Gott kriegst Du ein Label, das ist Wahnsinn. Er sieht Dich mit den Augen seiner Gerechtigkeit. Beziehungsgerechtigkeit ist das. Mir bist Du recht!
Es gibt keinen Nachsatz. Punkt.
Glaub‘ doch einfach, dass Jesus Christus das eine Liebeswort ist. Je neu gehört und zugesprochen und so persönlich wie die Unterschrift unter einem Zeugnis des Schreckens: „Komm, Junge, lass uns gehen!“
Direktoren gibt es ja viele. Also Menschen, die genüsslich die Fehler anderer suchen, um sie dann zu inszenieren. Schaut Euch den an! Schaut Euch die an!
Und Scham ist eines der stärksten Gefühle der Welt. Sich nicht zu trauen, man selbst zu sein. Seinen Fehler nie mehr loszuwerden. Die Urteile anderer so lange zu hören und zu glauben, bis Du gar nicht mehr frei atmen kannst. Geurteilt wird ja auch immer. Für manche bist Du zu groß, zu klein, zu dick, zu dünn, zu schnell zu langsam zu laut, zu leise.
Oder ein Urkundenfälscher.
Was für eine Wohltat, das zu überhören!
Neue Klamotten helfen
Jetzt hat Paulus den Brief an eine für ihn unbekannte Gemeinde in Rom geschrieben. Da wollte er gerne hinreisen. Und da stellt man sich schon mal vor. Damit die Menschen einen kennen.
Seite um Seite beschreibt er nun das Evangelium: Z.B. ungefähr in der Mitte des Briefes. Im ganzen Universum gibt es keine größere Kraft als die Liebe Gottes, die er durch Jesus Christus zeigt. (vgl. Röm 8)
Später dann spricht er von Jesus wie von einem Mantel. Man kann ihn anziehen. Der Brauch, bei der Taufe ein Taufkleid anzuziehen, in Weiß, hat damit zu tun (vgl. Röm 13,14, Gal. 3,27) Ich wähle eine alternative Existenzform. Lasse mich gewissermaßen überkleiden. Das ist mein göttlicher Schutz vor den Bewertungen anderer. Oder meiner eigenen. Bei denen ich regelmäßig schlecht weg komme. Also: Schäm‘ Dich!
Nee, mache ich jetzt nicht mehr!
Das ist meine neue Existenz im Glauben.
Von jetzt an höre ich auf die Liebesworte, das Flüstern, Werben, Einladen: „Komm Junge, lass uns gehen!“
Und so fragt Paulus später in seinem Brief: „Ist Gott für uns, wer kann gegen uns sein?“ (Röm8,31b)
Genau: Nix und niemand
Das neue Ja läuft schon
Anfang des neuen Jahres habe ich mir vorgenommen, mir mal nix vorzunehmen. Und das aus dem Grund, weil ich Druck nicht mag und dann klappt das wieder nicht mit dem mehr Sport, gesünder essen… was auch immer.
Und was soll ich sagen: Der Algorithmus lässt sich nicht überlisten. Hier werden mir dezent Laufschuhe angeboten. Da ein Fitnessprogramm. Alles klar!
Hellofresh winkt permanent vom Display. Man fühlt sich durchschaut.
Um eine neue Gewohnheit ins eigene Leben zu bringen. Braucht man 21 Tage (oder 66, sagt eine andere Studie). Das wäre ein schönes Projekt. Und kann jederzeit beginnen. 21 Tage jeden morgen neu. Aus dem Glauben: Ich bin passend für Gott.
Die Gelassenen und die Selbstoptimierer
Selbstoptimierer fahren mit dem Navi Strecken, die sie schon tausendmal gefahren sind. Man könnte noch was rausholen. Sie zählen ihre Schritte. Die nur vorwärts gehen.
Gelassene entdecken manchmal neue Wege. Auch wenn es Umwege sind. Setzen sich hin, schwänzen Sport, schauen aus dem Fenster. Und bleiben ruhig.
Man kann halt auch beides sein.
Sich selbst zu lassen, sein zu lassen. Heißt: Der Gerechte wird aus Glauben leben. Wer ich bin, was ich bin, was mich ausmacht – lass stecken! Das sagt mir Gott. Und sonst niemand.
Ich glaube Gott, ihm Recht zu sein.
Was also wünsche ich mir zur größten Lernerfahrung in diesem Jahr? Häufiger eine Zeugnistagerfahrung. Und wenn es sich peinlich anfühlt oder man meint, sich schämen zu müssen. Sagt eine Stimme:
„Komm, Junge, lass uns gehen!“
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